Lektorat 2.0 Eine Annäherung
Carl Spitzwegs 1839 entstandenes Gemälde „Der arme Poet“ gilt bei vielen Deutschen als Lieblingsbild. Einher mit dem humoristischen Eindruck, den wir vom armen Schreiberling in seiner schäbigen Dachstube erhalten, geht das romantische Verständnis von Schriftstellerei: das einsame Genie in seiner Kammer, aus dem ohne jegliche Zuwendung von außen die brillantesten Einfälle geradezu herausströmen. Ob das für die damalige Zeit realistisch war? Wenn man den regen Briefverkehr der Vertreter der deutschen Romantik näher betrachtet, wohl kaum. Rat haben sich Autoren untereinander immer schon geholt. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine solche Prüfinstanz im deutschen Verlagswesen auch institutionell etabliert: Von da an wirkten Lektoren als Erstleser und mahnende Kontrolleure ins Werk ihrer Schützlinge. Seitdem hat sich viel geändert. Tintenfässer mussten Tastaturen weichen und ein Lektor jongliert heute weitaus mehr Bälle gleichzeitig in der Luft als seine Vorgänger. Die mannigfaltigen Aufgaben können anhand folgender Rollen veranschaulicht werden, in die Lektoren wie Chamäleons im Verlagsalltag schlüpfen:
Der Lektor als Leser:
Die Uraufgabe des Lektorats ist es, dem Text des Autors als (Erst-)Leser zu begegnen. Das ist schwerlich mit der privaten Lektüre im Lesesessel vorm Kamin vergleichbar. Als Lektor nimmt man Einblick in das Rohmanuskript, kommt also in das Privileg, dem Text bei der Entstehung beizuwohnen. Der Lektor liest nicht passiv, seine Lektüre ist stets produktiv: Dabei seziert er nicht bloß den Text, sondern liest mit gestalterischer Vision auch gegen dessen Istzustand an. Oberstes Ziel ist es, Verbesserungsvorschläge anzubieten und aus Rohdiamanten funkelnde Edelsteine zu schleifen.
Der Lektor als Korrektor:
Unter Korrektorat versteht man die rein formale Arbeit am Text, also die Behebung von Rechtschreib- und Grammatikfehlern. Das Lektorat geht immer die Stufe weiter, schließt es doch zusätzlich die inhaltliche und stilistische Arbeit mit ein. Lektoren verfügen im Idealfall über ein breitgefächertes Allgemeinwissen, erkennen blitzschnell Zusammenhänge und spüren den verborgenen Möglichkeiten nach, die im Text schlummern. Im regen Austausch mit dem Autor werden diese gemeinsam ausgelotet und zu Überarbeitungsvorhaben konkretisiert.
Der Lektor als Programmverantwortlicher:
Als Schnittstelle zur Verlagsleitung ist die Lektoratsabteilung für die Sichtung, Prüfung und Akquisition von Manuskripten zuständig. Längst besteht diese Aufgabe nicht bloß aus dem Manuskriptstapel, der das Ablagefach zum Überlaufen bringt. Programmgestaltung bedeutet eben genau das: Ein aktives Gestalten, etwa in Form von der Entwicklung von Buchreihen oder inhaltlicher Themensetzung, ist gefragt.
Der Lektor als Texter:
Vom Klappentext über Werbesujets bis hin zu Texten für die Homepage und Begutachtungen: Im heutigen Verlag ist der Lektor immer auch Autor und somit für die textliche Gestaltung innerhalb des Verlags und nach außen hin zuständig. Zu einem Spannungsfeld kommt es dann, wenn Kollegen die Texte des jeweils anderen lektorieren, bekommt man hier nun doch den Brei vorgesetzt, den man normalerweise selbst seinen Autoren auftischt.
Der Lektor als Autorenbetreuer:
Des Lektors täglich Brot ist es, einen regen Austausch mit seinen Autoren zu pflegen. Dabei kommt es zu einigermaßen schizophrenen Konstellationen, muss der Lektor für seine Zöglinge doch so viel auf einmal sein: Kummerkasten und Therapeut, Freund und Kindermädchen, strenger Zuchtmeister und antagonistischer Gegenspieler. Der legendäre Verleger Siegfried Unseld konnte ein Lied von diesem schwierigen Balanceakt singen (berüchtigt sind die Briefe mitsamt wüstesten Beschimpfungen, die Thomas Bernhard an ihn richtete). Schlussendlich orientierte er sich an einem einfachen Credo: Nicht die Liebe könne das Rettungsmittel in der Beziehung zwischen Lektor und Autor sein, sondern die Arbeit müsse im Mittelpunkt stehen. Hier beim Vindobona Verlag bedeutet diese lektorische Arbeit immer eine Begegnung auf Augenhöhe: Optimierungsvorschläge werden unterbreitet und begründet, die Letztentscheidung bleibt gleichzeitig stets bei unseren Autoren. Schließlich sind sie es, die ihren eigenen Text am besten kennen!
Vom Lektor zum Lentor?
Im Jahr 2005 wurde auf der Leipziger Buchmesse ein Symposium mit dem provokanten Titel „Krise des Lektorats?“ abgehalten. Paradigmenwechsel hatten heftige Wogen im Literaturbetrieb geschlagen, die mit einem neuen Selbstverständnis unter den Jungautoren einhergingen: Der Geniegedanke wich zunehmend der Einsicht, dass Schreiben eine erlernbare Kunst sei. An Hochschulen im deutschsprachigen Raum sprossen – nach dem Vorbild der „Creative Writing“-Kurse in Amerika – Schreibschulen aus dem Boden. Anstatt der Lektoratsarbeit mit Zweifel und einer reflexartigen Abwehrhaltung zu begegnen, suchte diese neue Generation an Schriftstellern vielmehr nach einem Lektorat, das mit der Zeit ging: sozusagen der Version 2.0. Darin inbegriffen: die durchgehende Begleitung, die im Idealfall schon in der Ideenphase einsetzen sollte. Die Lektoren sollen neben ihren zahlreichen Rollen nun auch die des Mentors mitübernehmen und von nun an als „Lentoren“ sämtliche Schritte der Textentstehung begleiten. Auch unsere hauseigenen Lektoren im Vindobona Verlag sind sich dieser Entwicklungen bewusst.
Der unsichtbare Zweite
Die Literaturwissenschaftlerin und Verlagsexpertin Ute Schneider spricht vom Lektor als unsichtbarem Zweitem, der im Hintergrund verborgen als nach dem Autor nächste Person am Text arbeitet. Beim Vindobona Verlag treten die Lektoren mit vollem Einsatz aus diesem Schatten. Neben der Arbeit am Text kommt eines dabei garantiert nicht zu kurz: ein Herz für Autoren.