Wie kriminell sind Sie?
Die ungewöhnliche Hitze, welche die Stadt bereits seit zwei Wochen plagte, schien an diesem Tag ihren Höhepunkt zu finden. Obwohl es erst acht Uhr morgens war, zeigte das Thermometer bereits zwanzig Grad. Inspektor Vin Dobona, der sich gerade über die soeben aufgefundene Leiche beugte, beneidete jeden, der diesen Tag in einem klimatisierten Büro verbrachte. Die weibliche Leiche war achtlos in ein Gebüsch am Rande der Stadt geworfen worden und die Täter hatten sich keine große Mühe gemacht, ihre Spuren zu verwischen. Die Schürfwunden an den Beinen der Leiche ließen darauf schließen, dass die Leiche hier hergeschleppt wurde und dass der Zeitpunkt des Mordes erst ein paar Stunden her sein konnte. Dennoch begann sich das tote Gewebe, bedingt durch die brütende Hitze, bereits zu zersetzen. Die Insekten, die sich schon in allen möglichen Körperöffnungen des jungen Mädchens einnisteten, erübrigten den Rest. Der Hauch von Verwesung, der Inspektor Vin Dobona nur zu bekannt war, lag in der Luft.
In unserer neuen Blogserie möchten wir auf die verschiedenen Genres der Literatur eingehen und Autoren eine Art Hilfestellung geben. Ihr habt es bestimmt schon erraten, um welches Genre sich dieser Blogbeitrag dreht, richtig? Ist ja auch ganz leicht: Eine Stadt, eine Leiche, ein Inspektor und fertig ist der Kriminalroman, oder auch kurz Krimi genannt. So einfach? Nein, ganz so leicht ist es dann natürlich doch nicht. Denn es braucht mehr als nur einen Handlungsort, eine Leiche und einen Kommissar, um einen guten Krimi zu verfassen.
Allen voran wollen wir uns mit dem Ursprung von Kriminalromanen beschäftigen. Als wichtigste und vermutlich erste Untergattung von Krimis werden die Detektivgeschichten gezählt. Die berühmtesten Detektivgeschichten sind wohl jene von Sherlock Holmes und drehen sich, wie das lateinische Wort „detegere“ bereits verrät, um das „Aufdecken“ eines Mordes. Vor allem im frühen 19. Jahrhundert war es schwer, einen Mord nachzuweisen, und Menschen sehnten sich danach, dass eine böse Tat bestraft wurde. Dieser Wunsch nach Gerechtigkeit ist der Hauptgrund dafür, dass sich die Thematik von Schuld und Sühne seit Jahrhunderten besonderer Beliebtheit erfreut.
Der Kern eines guten Krimis liegt vor allem in einem ritterlichen und aufrichtigen Protagonisten, der auch manchmal mit eigenen Moral- und Wertevorstellungen zu kämpfen hat und, um den Fall schnellstmöglich zu klären, oft auf dem schmalen Grad zwischen Gesetz und Regelverstoß balanciert. Egal ob KommissarIn, DetektivIn oder PolizistIn, die Hauptperson stellt sich der Korruption und den illegalen Machenschaften einer undurchschaubaren Großstadt oder eines idyllischem Kleinstädtchens. Der Krimiautor lässt den Leser oft bis zuletzt im Unklaren über die Drahtzieher, die den staatlichen und rechtlichen Institutionen in einem Ausmaß überlegen sind, welches erst während des Lesens aufgedeckt wird. Doch gerade diese Ungewissheit treibt die Spannung der Leser weiter an und ist somit Herz und Seele eines guten Kriminalromans. Scheint der Täter vermeintlich schon anfangs festzustehen, wird der richtige Mörder erst kurz vor der letzten Seite erwischt und mit ihm ein schier undurchdringliches Netz aus Verbrechen und illegalen Betrügereien aufgedeckt. Das Schwierige für den Autor eines Krimis ist es, dem Leser die Gedankengänge und Schlussfolgerungen des Protagonisten darzulegen und gleichzeitig den wirklichen Täter unter Verschluss zu halten, damit am Ende der Geschichte ein „AHA“-Effekt beim Leser eintritt.
Detektivgeschichten werden auch als Whodunit (Who’s done it?) bezeichnet, zudem gibt es abgesehen von ihnen noch weitere Untergattungen des Kriminalromans, beispielsweise das amerikanische Pendant zum europäischen Detektiv, den „hardboiled detective“, außerdem Polizeiromane, Thriller, die Schwarze Serie, Gangsterballaden, Komische Krimis und Regionalkrimis. Bei den Detektivgeschichten stehen die Aufdeckung des Falles und die Ermittlungsarbeit im Vordergrund. Charakteristisch für einen „hardboiled detective“-Roman sind ein zynischer, illusionsloser und fast schon gesetzesloser Ermittler oder eine Ermittlerin und eine glaubwürdige Atmosphäre mit authentischen Protagonisten.
Das Mitreißen und Fesseln (englisch „to thrill“) der Leser ist der Kern des Thrillers, bei dem der Protagonist durch seine Ermittlungsarbeit Ziel des Täters wird und durch Schauer- oder Horroreffekte sowie eine unwahrscheinliche Handlung wird eine enorme Spannung aufgebaut. Die Schwarze Serie unterscheidet sich nur geringfügig vom amerikanischen „hardboiled detective“ und dreht sich rund um den Protagonisten, der als Einzelgänger und einsamer Wolf dargestellt wird. Während der Ursprung der Schwarzen Serie in der französischen Literatur (roman noir) liegt, wurden Gangsterballaden aus der pulsierenden Atmosphäre von Chicago heraus geboren. Beim Komischen Krimi wird die Handlung mit Witz und Humor aufgelockert und beim Regionalkrimi liegt der Fokus auf der Gesellschaft und auf den Nebenhandlungen, die sich mit der Frage „Was will der Täter mit dem Verbrechen aussagen?“ beschäftigen.
Was sollte also ein Autor beim Verfassen eines Kriminalromans beachten?
Das Augenmerk liegt vor allem auf dem Ermittler oder der Ermittlerin und dem Täter, der eben bis zuletzt unbekannt bleiben sollte. Der schier unendliche Kampf zwischen dem Guten (dem Ermittler) und dem Bösen (dem Täter) gipfelt in der Ermittlungsarbeit des Protagonisten, der durch Erfahrung, geschickte Gedankengänge und die Spuren, die der Täter hinterlassen hat, gedanklich ein Profil des Mörders erstellt. Durch diese Analyse dringt der Ermittler in die psychischen Abgründe des Täters ein und vermag das Motiv oder den Auslöser für die Tat herauszufinden. Für den Leser ebenfalls interessant ist die Opfer-Täter-Beziehung. Dieser will vor allem wissen, warum gerade diese Person ein Opfer werden konnte. Ein Leser wiegt sich gerne in Sicherheit, dass ein Opfer nicht rein zufällig gewählt wird und es sich nicht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hat. Eine Kriminalgeschichte erzählt also in Wirklichkeit zwei Geschichten. Eine über den Täter und sein Motiv und eine über den Ermittler, der das Verbrechen aufdeckt, damit der Täter bestraft werden kann und schlussendlich doch das Gute über das Böse siegt.