Virtuell reisen: Literatour durch digitale Gefilde
Für Reiselustige war die Corona-Zeit eine besondere Herausforderung. Geradezu gefangen haben wir uns in den trauten vier Wänden gefühlt. Was blieb war die Schwelgerei in Erinnerungen an vergangene Expeditionen. Zwar scheint sich die Situation allmählich zu lichten, doch ganz unbefangen vollzieht sich das Weltenbummeln noch nicht. Der Vindobona Verlag möchte Abhilfe schaffen und präsentiert eine Literatour der anderen Art: Nein, keine Städtereise, sondern das Abenteuer Virtuell reisen, das im World Wide Web zu prägenden kulturellen Einrichtungen führt.
Rokoko, Faust und die Gedankenwelt Nietzsches
Die Klassik Stiftung in Weimar lässt sich nicht lumpen und bietet gleich eine Mehrzahl an interaktiven Aktivitäten. Wollten Sie immer schon einmal die legendäre Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek besuchen? Sie ist näher als Sie denken – nämlich nur einen Mausklick entfernt! Die Stiftung bietet auf ihrer Homepage einen 360-Grad-Rundgang durch den wunderschönen Rokokosaal der 1691 gegründeten Bibliothek, die nach ihrer größten Förderin benannt wurde. Im Jahr 2018 fand mit „Du bist Faust. Goethes Drama in der Kunst“ eine faszinierende Ausstellung in Weimar statt, die Goethes Werk in den Mittelpunkt der europäischen Kulturgeschichte rückte. Auch hier wird ein 360-Grad-Rundgang geboten, anhand dessen wir die Nachwirkungen des Faust in den Werken von Charles Gonoud, Käthe Kollowitz bis hin zu Martin Scorsese erkunden können. Dabei zeigt sich: Die großen Themen des Faust – Jugendwahn, Egoismus, Zerstörungswut – wirken bis in die Jetztzeit nach und halten unserer Gesellschaft ungebrochen einen Spiegel vor.
Virtuell reisen ist auch in der Klassik Stiftung möglich, die zum Enfant terrible der deutschen Philosophie lädt: Friedrich Wilhelm Nietzsche. Einem „digitalen Parcours der Moderne“ folgend erhalten wir Einblick in das komplexe Schaffen des 1900 in Weimar verstorbenen Universalgenies. Als besondere Stationen können jene hervorgehoben werden, die uns Nietzsche als Musikliebhaber und Leser näherbringen. Wir erhalten Zugang zu den Sinnesreizen und Werken, die den Autor von „Also sprach Zarathustra“ zu seinen textlichen Hochleistungen anregten. Besonders vergnüglich ist das Online-Spiel „DENK MIT! Nietzsche“, wo wir aufgerufen werden, eine Reise durch Nietzsches Werk anzutreten und ihm beim Sortieren seiner Gedanken behilflich zu sein!
Klassik Stiftung: www.klassik-stiftung.de/startseite/digital
Intimes aus dem Nähkästchen
Das Tagebucharchiv in Emmendingen sammelt seit 1998 private Lebenszeugnisse – dazu gehören etwa Tagebücher und Briefverkehr – aus der Zeit des späten 18. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei geht es explizit nicht darum, die Gedanken großer Denker und Autoren zu sammeln. Ziel ist es vielmehr, einen Eindruck der Alltagsgeschichte(n) zu vermitteln. Neben wunderschönen Zeichnungen und Liebesgeständnissen kann man also auch auf die eine oder andere Einkaufsliste stoßen! Die Mediathek des Archivs bietet einerseits mittels Audiobeiträgen die Möglichkeit, faszinierenden Lebensgeschichten beizuwohnen. Darunter eine Tagebuchlesung von Martin Welser, Doyen der deutschen Gegenwartsliteratur. Andererseits erhält man anhand von Bild- und Videoserien einen Einblick in manche der schönsten Exponate. Unter den Highlights: ein „Album Amicorum“ (Freundschaftsbuch) aus dem Jahre 1791.
Deutsches Tagebucharchiv: https://tagebucharchiv.de/mediathek
Virtuell reisen in die magische Welt der Handschriften
Der besondere Zauber, der von alten Handschriften ausgeht, ist nicht nur in den Stiftsbibliotheken von Admont und Waldsassen spürbar. Mittlerweile können viele dieser Kulturschätze auch online bestaunt werden! Das Münchener Digitalisierungs-Zentrum (MDZ) widmet sich bereits seit 1998 dem Unterfangen, die reichhaltigen Bestände der Bayrischen Staatsbibliothek online zur Verfügung zu stellen. Damit sind die Bayern Vorreiter auf dem Gebiet der „Digital Humanities“, deren Ziel es ist, wichtige Geistes- und Kulturgüter digital zu sichern und zugängig zu machen. Zum Schatz der Münchener Archivare zählt die vollständig digitalisierte Fassung der Gutenberg-Bibel. Das Exemplar gilt als eine der 49 erhaltenen Ausgaben der zwischen 1452 und 1454 entstandenen Meisterleistung der Druckkunst. Aufgrund der 42 Zeilen pro Seite als „zweiundvierzigzeilige Bibel“ bekannt, enthält die Münchener Fassung neben farbigen Initialen die „tabula rubicarum“, eine Liste an roten Überschriften, die nach Druckabschluss händisch eingetragen werden sollten. Ebenso bestaunt werden können ein Babylonischer Talmund aus dem 14. Jahrhundert, der als einer der vollständigsten der Welt gilt, sowie eine Handschrift des Nibelungenlieds, deren starke Benutzungsspuren auf viele Generationen an begeisterten Lesern verweisen.
Münchener Digitalisierungs-Zentrum: www.digitale-sammlungen.de
Für all jene, die eine Reise in die Kulturschätze eines anderen Sprachraums unternehmen möchten, kann das Book of Kells als unbedingte Empfehlung ausgesprochen werden. Die um 800 entstandene religiöse Handschrift gilt als allesüberragendes Beispiel der insularen Buchmalerei, die sich fernab der Völkerwanderung am europäischen Kontinent auf den Inseln Irlands und Schottlands entwickelte. Die Bibliothek des Trinity College Dublin hat diesen unermesslichen Bücherschatz digital erfahrbar gemacht. Als Betrachter verliert man sich schnell in den illuminierten Buchseiten, die mit typisch keltischen Tier- und Menschenornamenten verziert sind. Der durch das Buch inspirierte Animationsfilm „Brendan und das Geheimnis der Kells“ aus dem Jahr 2009 ist eine große Empfehlung für alle Familien und jene unter uns, die im Herzen junggeblieben sind.
Digitalarchiv des Trinity College, Dublin: https://digitalcollections.tcd.ie