Der Geniekult und seine Folgen
Vorurteile haben einen schlechten Ruf. Niemand will sich mit ihnen ertappt sehen. Schließlich erweisen sie sich nicht nur häufig als falsch, sondern können auch großen Schaden anrichten. Dennoch ist niemand von Vorurteilen frei. Wir nutzen sie als Alltagsheuristik, um uns in der Welt zu orientieren. Wie in allen Bereichen gibt es auch über Berufe und Hobbys eine Menge Klischees: Anwälte sind geldgierig, Lehrer wollen nur frei haben, wer gern Computerspiele spielt, ist antisozial. Auch Schriftsteller bleiben nicht verschont. Wir vom Vindobona Verlag haben fünf besonders häufige Vorurteile über Schriftsteller aufgegriffen.
1. Geniale Ideen fliegen ihnen zu
Denkt man an berühmte Schriftsteller, fallen Namen wie Shakespeare oder Goethe. Solche illustren Personen sind von Natur aus begabt und schaffen aus sich selbst heraus bahnbrechend Neues. Sie vereinigen in sich natürliches Talent und göttliche Inspiration, sodass die Worte wie von selbst aufs Papier fließen. Dieses Bild stammt aus dem 18. Jahrhundert, als insbesondere der Sturm und Drang einen Geniekult zelebrierte, der sich an das Aufklärungsideal vom autonom schöpferischen Menschen anschloss.
Tatsächlich entstehen die allermeisten Werke nicht aus spontaner Eingebung. Schreiben geht nicht ohne zähe Übung, Neuanfänge und gewissenhaftes Überarbeiten. Das ist vielleicht weniger romantisch als das Klischee. Aber es ist ermutigend für alle, die sich weder anmaßen, vom Genius beseelt zu sein, noch ewig auf den Musenkuss warten wollen. Hier finden Sie unsere Tipps, was man tun kann, um den kreativen Prozess in Schwung zu bringen.
2. Nur die Kunst zählt
Das schreibende Genie ist von seinem Schaffen derart durchdrungen, dass nichts anderes mehr Bedeutung hat. Wer ernsthafte literarische Ambitionen hat, sollte also andere berufliche Wege, Familie und Freundschaften besser gleich vergessen. Dafür muss man sich auch nicht mehr um Alltagsverpflichtungen und allgemeine soziale Verträglichkeit kümmern.
Abgesehen davon, dass die wenigsten Menschen so leben können und wollen, entspricht dies auch nicht der Biografie der meisten berühmten Schriftsteller, und der weniger berühmten erst recht nicht. Außerdem können Beobachtungen aus allen Lebensbereichen Inspiration für Literatur sein. Ein vielseitiges Leben bereichert also das Schreiben. Natürlich ist es oft schwierig, im vollen Alltag Raum für Kreativität zu finden. Aber es muss schließlich nicht jeder einen Roman in wenigen Monaten schreiben.
3. Genie ist männlich
Fragt man nach berühmten Schriftstellern, fallen vor allem Namen von Männern, und das nicht nur wegen des generischen Maskulinums der Fragestellung. Frauen traut man traditionell allenfalls seichte Liebesromane zu, nicht hohe Literatur. Das Genie im 18. Jahrhundert war selbstverständlich männlich. Dies wirkt trotz allem Fortschritt bis heute nach. Beispielsweise dominiert noch immer ein männlich geprägter Kanon die Schullektüre. Starre Geschlechterrollen verhinderten nicht nur, dass Frauen überhaupt schrieben, sondern auch, dass ihre Werke anerkannt wurden und werden. Diesem Vorurteil lässt sich entgegenwirken, indem man selbst seine Lektüre diversifiziert. Übrigens sind schreibende Frauen auch heute noch mit sexistischen Vorurteilen konfrontiert, etwa wenn ihnen bestimmte Genres wie Science-Fiction weniger zugetraut werden. Dabei stammt der erste Science-Fiction-Roman von einer Frau: „Frankenstein“ von Mary Shelley.
4. Unglücklich und neurotisch
Laut Klischee liegen Genie und Wahnsinn eng beieinander. Künstlern wird eine besonders empfindliche Seele zugeschrieben. Über Unglück lässt sich außerdem trefflich schreiben. Sogleich sind Beispiele zur Hand: Sylvia Plath, Ernest Hemingway, Ingeborg Bachmann und Hermann Hesse etwa litten bekanntermaßen unter Depressionen.
Es gibt zwar gewisse Belege, dass eine Veranlagung zu psychischen Krankheiten mit Kreativität korreliert, aber dies sollte nicht zu hoch bewertet werden. Auch glückliche Menschen können schreiben; Depressive in einer akuten Phase jedoch eher nicht. Der Schreibprozess erfordert viel Frustrationstoleranz und Disziplin. Zudem ist es für Betroffene nicht hilfreich, psychische Krankheiten zu romantisieren.
5. Brotlose Kunst
Das literarische Genie, das allein seiner Kunst lebt, schert sich nicht um profane Dinge wie Geld. Somit fristet der Schriftsteller ein kärgliches Dasein und ist damit zufrieden, denn große Literatur muss notwendig verkannt sein. Auf der anderen Seite gibt es schwerreiche populäre Autoren wie Stephen King oder J. K. Rowling.
Die Wahrheit liegt meistens in der Mitte. Erfolge, die Millionen einbringen, sind selten, aber viele Autoren erschreiben sich doch ein Auskommen. Wenn man allein vom Schreiben nicht leben kann, ist das jedoch weder eine persönliche Schande noch ein Qualitätsmerkmal.
Wir wünschen Ihnen jedenfalls viel Freude beim Schreiben – unbelastet von Vorurteilen!
Kennen auch Sie Vorurteile über Schriftsteller? Hinterlassen Sie uns Ihre Eindrücke in den Kommentaren!